Der Furor der Modernisierung
Das Rad der
Veränderung dreht sich ständig: Neues wird erschaffen, Altes abgeschafft.
Weg damit! Jetzt! Sofort! Das Neue will keine Alternative, kein Nebeneinander
von Alt und Neu, kein Abwägen, was besser ist und was schlechter. Wir leben im
Zeitalter des Neuen, des Digitalen, das vor ungefähr fünfzehn, zwanzig Jahren
begonnen hat. Das iPhone hat es initiiert, ChatGPT ist dessen jüngstes Kind.
Was wurde nicht alles abgeschafft, geopfert, damit das Neue sich entfalten
konnte: Zettelkataloge in Bibliotheken verschwanden, Touch-Screens machten
Druckknöpfe unnötig. Kurzum: Innovationen fegen Altes weg. Nicht nur in der
Zivilisation, sondern auch – gerade wegen der Neuerungswut der Zivilisation –
in der Natur: Jede Minute schmelzen Millionen von Tonnen Gletschereis,
verschwinden 30 Fussballfelder Regenwald, 70 Prozent aller Wirbeltiere sind ausgestorben.
Als Gestus des Verschwindens erscheint der (menschliche) Wille zur Zukunft, zu
einer besseren, einfacheren, klareren Welt. Doch ist es so?
In der Tat
dreht sich das Rad der Veränderung immer schneller und überrollt so manches
Gute, Althergebrachte, Bewährte. Wer das Rad aufhalten will, gilt als Bremser,
als Fortschrittsverweigerer. Wer etwas bewahren will, gilt als konservativ, als
skurril. Gleichzeitig konservieren, speichern wir in den «Palästen des
Aufbewahrens», den Museen, mehr als jede Zivilisation vor uns. Paradoxe Welt!
Diese beiden
Welten, die Welt des Neuen, des Fortschritts, der Moderne, und die Welt des Alten,
Hergebrachten, der Tradition, gilt es zu verbinden – mit dem «richtigen» Rad
der Veränderung. Dieses Rad besteht gemäss dem Managementberater Marshall
Goldsmith nicht nur aus Erschaffen, es besteht auch aus drei weiteren Bereichen
(oder Speichen): Bewahren, Akzeptieren, Beseitigen. Wir müssen bewahren,
was (an uns und unserer Umwelt) positiv ist, was wir pflegen und verbessern
wollen, akzeptieren, was wir nicht ändern können, beseitigen, was
uns behindert, was wir abschaffen oder reduzieren sollten. Erst dann können wir
erschaffen, was oder wie wir sein und leben wollen, wie unsere Umgebung,
Technik, Wirtschaft, Politik modernisiert, erneuert werden soll. Dann können
wir den «Furor der Modernisierung» in geordnete, ruhige «Erneuerungsbahnen»
lenken. Denn: Die «permanente Erneuerung des Neuen, die Modernisierung der
Moderne» (Konrad Paul Liessmann) schreitet voran – nutzen wir sie, indem wir erkennen,
dass sich das Alte, das Erhalten, und das Neue, das Verändern, gegenseitig
bedingen.