Vom Verdrängen

Es gibt zweierlei Wahrheiten: liebsame und unliebsame. Erstere
nähren uns Geist und Seele, zweitere zehren uns auf. Menschen gehen
unterschiedlich mit unliebsamen Wahrheiten um: Entweder lassen sie sie gar
nicht an sich heran, wenn doch, akzeptieren sie sie – oder verdrängen sie.
Besonders geübt sind wir im Verdrängen; kein Wunder ob all der schlechten
Nachrichten, die uns Tag für Tag aus aller Welt erreichen, kein Wunder, ob der
persönlichen Dinge, die uns belasten und das Herz schwer machen können.
Glücklich ist, wer vergisst oder verdrängt, was nicht zu ändern ist. Allerdings
lehrt uns die Psychologie: Was wir verdrängen, ist selten wirklich vergessen,
sondern holt uns ein, irgendwann, beginnt zu modern, macht krank.

So ergeht es, um ein aktuelles Beispiel aufzugreifen, auch
den Schweizer Würdenträgern der katholischen Kirche (wobei der Begriff «Würde» hier
nicht mehr angebracht ist). Jahrzehntelang haben sie geschwiegen über sexuelle
Übergriffe unter dem Deckmantel christlicher Nächstenliebe, haben verdrängt,
vertuscht. Nun, im September 2023, hat eine Pilotstudie der Universität Zürich,
in Auftrag gegeben immerhin durch die Schweizer Bischöfe, einen ersten Einblick
gegeben in das unglaubliche Ausmass sexuellen Missbrauchs durch Geistliche. Die
Studie lehrt uns: Die Kirche ist in diesem dunklen Kapitel nicht Quell der
Wahrhaftigkeit, sondern krankt am Verdrängen unliebsamer Wahrheiten. Und wir lernen:
Es gibt auch in der Schweiz allzu viele Geistliche, darunter Bischöfe, die so
viel zu beichten hätten, dass ihnen keine Zeit mehr fürs Predigen bliebe.

Generell lässt sich beobachten: Je heikler die Themen und je
komplexer die unliebsamen Wahrheiten sind, denen sich unsere Gesellschaft
gegenüber sieht, desto grösser ist der Drang zum Verdrängen. Das hat sich etwa
in Corona-Zeiten gezeigt. Im Bangen um unseren Wohlstand verdrängen wir gerne,
was lästig ist. Umso wichtiger wäre, um auf die Politik zu kommen, kluges,
lösungsorientiertes Handeln. Doch das geschieht immer seltener. Statt sich den
Problemen zu stellen, bewirtschaften gewisse Politikerinnen und Politiker,
manchmal ganze Parteien, lieber Phantomprobleme. In einer Mischung aus
Machtstreben, Populismus und Inkompetenz liefern sie damit Munition für die
Verdrängerinnen und Verdränger im Land, in der (leider oft berechtigten)
Hoffnung, bei Wahlen zu profitieren. Sie tun, was ihnen opportun erscheint, und
nicht, was der Gesellschaft dient.

Dabei besteht die Gefahr, dass sie jene übertönen, die sich
den realen Problemen stellen. Mit Blick auf die anstehenden nationalen Wahlen
vom 22. Oktober wünsche ich mir, dass – unabhängig der politischen Couleur –
Politikerinnen und Politiker gewählt werden, die Probleme lösen statt
verdrängen. Wir haben die Wahl. Nicht, dass unsere Demokratie an Auszehrung
krankt. Gute Politikerinnen und Politiker sind selbst dann überzeugend, wenn
sie die Wahrheit sagen. 


Bild-Quelle: Unsplash, Chad Greiter

Jörg Krummenacher
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